«Frauen sollten nie weniger als 60 Prozent arbeiten»

Welche Probleme beschäftigen Frauen in Liechtenstein? Petra Eichele, Geschäftsführerin der infra, steht uns Rede und Antwort. Und erklärt, warum Frauen nicht in die Teilzeitfalle geraten dürfen.

Die infra ist eine Informationsstelle für Frauen in Liechtenstein. Mit welchen Fragen kommen Frauen zu euch?

Unsere Beratungen betreffen alle Lebensbereiche und Lebensphasen einer Frau: Scheidung, Finanzen, Altersvorsorge, Arbeitssuche, Versicherungen, sexuelle Belästigung, Mobbing, Krankheit, häusliche Gewalt etc. 

Und was ist der Fokus eurer Beratungen?

Die Hälfte der Beratungen steht in Zusammenhang mit den Themen Trennung/Scheidung (37 %) sowie Unterhaltsberechnungen und Obsorge (12 %). 2022 verzeichneten wir einen Anstieg in den Beratungen zu Trennung und Scheidung um 24 %. Wie bereits letztes Jahr stieg das Interesse an Beratungen zum Thema Konkubinat um 46 %. Hier ist eine Beratung besonders für Frauen wichtig, die aufgrund Familiengründung ihre Berufstätigkeit aufgeben oder reduzieren. Unsere überarbeitete Konkubinats-Broschüre erscheint im Frühsommer 2023.

Welche Rolle spielt das Thema Geld?

Eine sehr grosse. Viele Frauen fühlen sich im Umgang mit dem Thema Finanzen unsicher. Aufgrund ihrer Lebenswege, die oft von der Betreuung von Kindern und älteren Familienangehörigen geprägt sind, ist es jedoch gerade für Frauen wichtig, fürs Alter zu sparen. Erwerbsunterbrüche, Teilzeitarbeit und tiefere Löhne führen in der Regel zu einer finanziellen Lücke im Alter, die nur mittels privater Vorsorge geschlossen werden kann.

Was hast du bei den Beratungen als überraschend erlebt?

Dass es auch im Jahr 2023 Frauen gibt, die keinen Zugang zu den Familienfinanzen haben. Die Frau arbeitet nicht und sie erhält ein «Haushaltsgeld» von ihrem Mann. Sie weiss auch nicht, wie hoch das Einkommen des Manns ist. Für mich unbegreiflich, da die Frau ja die Steuererklärung unterschreibt und spätestens dort sehen könnte, wie gross das Familieneinkommen ist. 

Ihr habt 2023 euren Schwerpunkt auf das Thema Finanzen gelegt. Was passiert dieses Jahr bei euch?

Wir bieten verschiedene Veranstaltungen an: Steuererklärung, Informationsveranstaltungen zur ersten, zweiten und dritten Säule. Für Migrantinnen bieten wir noch eine Informationsveranstaltung zur Budgeteinteilung an. Mehr Informationen finden interessierte Frauen auf www.infra.li

Siehst du grossen Handlungsbedarf bei diesem Thema? Sind Frauen deiner Einschätzung nach finanziell schlechter gestellt?

Der Handlungsbedarf ist sehr hoch, da überwiegend Frauen die unbezahlte Care-Arbeit leisten. In der Schweiz werden jährlich rund 16 Milliarden Arbeitsstunden geleistet. Der grössere Teil davon, nämlich 8.7 Milliarden, sind unbezahlt. Insgesamt rund 2.8 Milliarden Arbeitsstunden werden für die Betreuung von Kindern und Erwachsenen aufgewendet. Vier Fünftel davon macht die unbezahlte Betreuungsarbeit für Kinder und pflegebedürftige Erwachsene in Familien aus, konkret sind dies 2.3 Milliarden Arbeitsstunden. Davon wiederum entfallen 2.1 Milliarden Stunden (über 90 %) auf die Kinderbetreuung. Für Liechtenstein fehlen die Zahlen. Wir fordern schon seit geraumer Zeit, dass die unbezahlte Care-Arbeit auch in Liechtenstein erhoben wird. Da die unbezahlte Care-Arbeit in der zweiten Säule nicht abgebildet wird, erhalten Frauen ein Drittel weniger Rente im Alter.

Welche Unterschiede siehst du zwischen jungen und älteren Frauen? Ab wann fangen Frauen deiner Erfahrung nach an, sich mit dem Thema Geld zu befassen?

 Ich sehe (noch) keinen Unterschied. Aber ein zentrales Anliegen der infra ist, jüngere Frauen für die Finanzen und Altersvorsorge zu sensibilisieren. Sie frühzeitig zu informieren, welche Auswirkungen Teilzeitarbeit und Erwerbsunterbrüche haben auf ihre Finanzen und später dann Altersvorsorge. Einige wenige Frauen melden sich bei uns, wenn sie schwanger sind und es darum geht, die Erwerbsarbeit zu reduzieren und sie sich fragen, welche Auswirkungen es auf ihre Altersvorsorge hat. Oder bei einer anstehenden Trennung oder Scheidung, wenn es darum geht, auf eigenen Füssen zu stehen. 

Woran liegt es, dass Männer sich anscheinend mehr für Finanzen interessieren oder sich besser darum kümmern?

Ich denke, es liegt in den längst überholten und immer noch fest verankerten Rollenbildern. Zudem haben Männer in der Regel mehr Geld zur Verfügung als Frauen. Wenn ich wenig Geld zur Verfügung habe, bleibt auch nicht viel übrig, um es zu investieren.

Ihr bietet dieses Jahr Informationsveranstaltungen zu AHV, Pensionskasse und Anlagestrategien an. Haben es die Frauen also selbst im Griff, finanziell gleichgestellt zu sein? Fehlt ihnen nur das Wissen?

Nicht nur, aber auch. Weil eben auch noch die traditionellen Rollenbilder eine grosse Rolle spielen, Frauen durch die Care-Arbeit mehr Teilzeit arbeiten als Männer, und es immer noch einen Lohnunterschied von 14 % gibt, haben Frauen weniger Geld zur Verfügung und Lücken in der Altersvorsorge. Es ist darum sehr wichtig, dass sich Paare frühzeitig überlegen, wie sie Erwerbs- und Care-Arbeit partnerschaftlich aufteilen, wenn Kinder kommen. Diese Diskussion muss geführt werden. Wenn sich Frauen für eine Teilzeitarbeit entscheiden, sollten sie sicherstellen, dass eine eigenständige Altersvorsorge aufgebaut werden kann (3. Säule).

Wo siehst du Handlungsbedarf in der Politik und Wirtschaft?

Zuerst einmal eine Erhebung der unbezahlte Care-Arbeit für Liechtenstein zu machen und auch die unbezahlte Care-Arbeit in der zweiten Säule abzubilden. Um die Lohnungleichheit zu beheben, könnten Arbeitgebende verpflichtet werden, eine Lohnstrukuturanalyse durchzuführen, um zu sehen, ob es diskriminierende Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männer gibt.    

Wie können wir eine Veränderung erreichen?

Durch Sensibilisierung und Aufklärung.

Was ist dein Tipp für Frauen, damit sie finanziell unabhängig bleiben?

Unbedingt im Erwerbsleben zu bleiben und nicht weniger als 60 % zu arbeiten. Mit dem Partner eine faire Aufteilung der Erwerbs- und Care-Arbeit anzustreben.

Würdest du Männern gerne etwas mit auf den Weg geben?

Auch sie profitieren von einer finanziell unabhängigen Frau, sei es bei einem Arbeitsplatzverlust oder auch bei einer späteren Scheidung. Zudem hält eine Partnerschaft auf Augenhöhe länger, weil sie sich gegenseitig respektieren und keiner versucht, den anderen zu dominieren. 

Du hast einen Wunsch frei: Was wünschst du dir?

Dass die unbezahlte Care-Arbeit mehr Wertschätzung erhält und in einer Altersversicherung abgebildet wird.


Porträt Petra Eichele

Petra Eichele ist seit 2017 Geschäftsführerin der infra. Sie hat einen kaufmännischen Hintergrund und eine Weiterbildung im Bereich psychosoziale Beratung und war zuvor für eine Gewerkschaft sowie eine Hochschule tätig. Petra setzt sich unter anderem für Armutsbekämpfung, Bürgerrechte und soziales Handeln sowie die Unterstützung benachteiligter Gruppen ein.


Über die infra
Die
infra ist eine nichtstaatliche Anlaufstelle für Frauen. Als Verein organisiert, finanziert sie sich durch Landes- und Mitgliederbeiträge sowie Spenden. Gegründet wurde die infra 1986 von einer Gruppe initiativer Frauen. Die infra macht Öffentlichkeitsarbeit, setzt sich sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene politisch für die Anliegen der Frauen ein und lanciert vielfältige Projekte zur Verwirklichung der Chancengleichheit.

Katrin Mirjam Hasler-Dobratz

Katrin ist Inhaberin und Creative Director einer Agentur für Branding, Kommunikation und Design in Zürich. Sie ist in Liechtenstein aufgewachsen und wohnt dort mitten im Grünen. Sie liebt den Mid-Century-Modern-Stil und streichelt gerne Katzen.

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Altersvorsorge Liechtenstein: Pensionskasse